George Steiner über Musik, ein todmüdes Deutschland, gewagte Architektur und das Prinzip Hoffnung
Interview Jan Brachmann /Juli 2004 / C BZ
Herr Professor Steiner, Sie sind ein Mann des Wortes, eng vertraut mit der Geschichte des Dramas, der Literatur, der Philosophie Europas, dennoch fesselt Sie die Musik in beinahe noch stärkerer Weise. Warum?
In der ganzen Geschichte des Westens, und ich kenne die östliche Philosophie nicht, kann man die Denker, die wirklich etwas Grundsätzliches über Musik gesagt haben, an fünf Fingern abzählen. Dazu gehören Plato, Boethius, sicherlich Rousseau (den man oft vergisst), Nietzsche natürlich und Schopenhauer. Aber es sind sehr, sehr wenige. Etwas über Musik zu sagen, ist selbst ein Paradox.
Aber woran liegt das?
Es gibt eine Spannung zwischen Wort und Musik, die von Anfang an, schon in der griechischen Mythologie, eine tragische und frustrierte Spannung ist. Die Sprache ist immer eifersüchtig auf die Musik, war es immer. In der Sprache herrschen die Fesseln der Logik. Musik dagegen kennt die Polyphonie, Musik kann mit der Zeit spielen, kann die Zeit umdrehen, im Kanon, im Kontrapunkt. Die Sprache kann es nicht. Die Musik steht jenseits von Gut und Böse, erlaubt eine Freiheit etwa der Wiederholung, die viel größer ist als die der Sprache.
Trotzdem wird viel über Musik geredet .
Ja, sicher. Es gibt strenge Analysen der Musik, ihrer technischen Feinheiten, und es gibt millionenfach impressionistisches Gequatsche. Aber um etwas wirklich Neues und Tiefes über Musik zu sagen, muss man selbst ein Genie sein. Man muss ein großes, großes Vertrauen haben in die Möglichkeiten der Sprache, Enden offen zu lassen. Das ist nur sehr Wenigen erlaubt.
Sie trauen der Musik viel zu. In Ihrem Buch "Der Tod der Tragödie" deuten Sie an, dass die bedeutendsten Tragödien des 19. Jahrhunderts nicht in der verbalen Sprache, sondern in der Kammermusik und Symphonik Beethovens geschrieben wurden. Haben aber nicht gegenwärtig sowohl die Musik als auch das Wort in ihrer Wirksamkeit gegen das Bild verloren?
Gehen wir langsam vor. Ich würde sagen - und das meine ich nicht als rhetorische Übertreibung -, die größte Autobiografie des 20. Jahrhunderts sind die vierzehn Streichquartette von Schostakowitsch. Das ist die größte Selbstdarstellung, Selbstprüfung, Selbstverteidigung und Selbstanklage, die wir aus diesem Jahrhundert besitzen. Wir haben keine sprachliche Autobiografie, die sich ganz mit diesem Riesenwerk vergleichen lässt. Wir haben gegenwärtig auch auf dem Theater eine sehr große Periode der Musik, wenn man bedenkt, dass England seit dem 17. Jahrhundert keine bedeutenden Musiker hatte und plötzlich Britten und Tippett hervorbrachte. Gerade hat Ferneyhough in München eine Walter-Benjamin-Oper uraufgeführt. England explodiert auf dem Gebiet der Neuen Musik. Wir leben in einer Zeit von ganz großen Komponisten. Die sehr moderne Oper ist viel mächtiger im Tragischen als das moderne Theater: Bergs "Wozzeck" und "Lulu", Brittens "Peter Grimes" und "Die Soldaten" von Bernd Alois Zimmermann.
Nike Wagner, die Urenkelin von Richard Wagner, behauptete aber kürzlich in Berlin, dass sowohl das Wort als auch die Musik auf der Opernbühne das Publikum nicht mehr unmittelbar erreichen. Sie bedürften gewissermaßen erklärender Fußnoten durch das Bild.
Das ist gar nicht wahr! Wenn man eine große Aufführung von "Peter Grimes" gesehen hat, merkt man: Das Publikum ist gefesselt. Ich habe auch schon mehrmals Aufführungen der "Soldaten" erlebt, technisch und musikalisch ein sehr schwieriges Werk - aber es ist fesselnd und von einer Wucht, einer tragischen Macht. Vielleicht braucht man erklärende "Fußnoten" für die elektronische Musik, für die unerhört schweren Cluster bei Boulez. Aber Fußnoten für die moderne Oper - nein, damit bin ich überhaupt nicht einverstanden.
Dennoch entsteht für kritische Beobachter der zeitgenössischen Szene der Eindruck, dass die Idee des Neuen erschöpft sei, dass die Musik sich im Kreis drehe.
Das kann ich wirklich nicht beurteilen. Das ist sicherlich in England und Amerika nicht der Fall. In Amerika gibt es gegenwärtig zwanzig oder dreißig neue Opernhäuser, die neue Werke in Auftrag geben. Es wird Neues gespielt, ganz neu einstudiert. Paradox ist die Wiederentdeckung des Barock - auch eine sehr modernistische Strategie. Man kann aus einer Barock-Oper ein Programm für Neue Musik machen. Nein, ich sehe das gar nicht ein, dass das Neue sich erledigt haben soll. Wir leben doch noch in der Zeit von Nono und Berio. Wann war die italienische Musik das letzte Mal so voll von Abenteuern wie in den letzten vierzig Jahren?
Aber Nono und Berio sind beide schon tot.
Ja, seit kurzem. Aber, verzeihen Sie, das ist doch jetzt ganz kindisch. Es gibt nicht jedes Jahr Meisterwerke. Die gab es auch nicht in den großen klassischen Epochen.
Sie sagen, in Amerika würde sehr viel Neues in der Kunst gemacht. Liegt das daran, dass Amerika auch politisch versucht, Stärke zu zeigen?
Für einen Amerikaner ist das Morgen interessanter als das Heute. Das ist eine Seeleneinstellung. Blochs schönes "Prinzip Hoffnung" wurde in Amerika geschrieben. Das darf man nicht vergessen. Ich habe gerade den amerikanischen Komponisten Eliott Carter vor seinem Publikum in London gesehen, mit 94 Jahren, strahlend, und mit zwei neuen Werken von großer Komplexität und künstlerischer Erfindung. Vielleicht sprechen Sie aus einer Lage tiefer Müdigkeit heraus. Deutschland ist müde, todmüde.
Woran liegt das?
Zu viel Geschichte.
Kann sich Deutschland davon befreien?
Was für eine schwierige Frage! Soll es sich befreien? Darf es sich befreien? Kann es sich befreien? Das kann man nicht leicht beantworten. Nur ein junger deutscher Mensch kann das durchdenken. Aber ich hatte hier in Berlin die Ehre, die erschütternde Ehre, Durs Grünbein zu begegnen. Er ist für mich nach Celan die große Stimme. Das Buch "Vom Schnee oder Descartes in Deutschland" von Grünbein, ein Gedichtzyklus, ist eine der ganz großen Leistungen der deutschen Lyrik. Und wissen Sie, wenn Sie mir vor einigen Jahren gesagt hätten, dass ich Bücher von Celan in einem Bahnhofskiosk finden würde, dann hätte ich das kaum für möglich gehalten. So eine gewaltige Lyrik in einem Bahnhofskiosk - stellen Sie sich vor, was das bedeutet! Celan ist die Stimme nach Hölderlin.
Sie sind gern in Berlin .
Nein. Berlin ist scheußlich. Berlin ist kitschig. Nehmen Sie die Architektur des neuen Berlin. Ich saß kürzlich im Sony Center am Potsdamer Platz. Man spürt innerlich einen Schrei angesichts dieser Barbarei. Und dann sagt man sich, technologisch gesehen werden die späteren Jahrhunderte sich wundern über dieses Babylon. Seit den hängenden Gärten von Babylon hat man kaum eine solche Architektur gewagt. Für die Architekten der Gegenwart ist das ein ganz großer Moment.
Also ist Europa doch nicht müde geworden.
Es kommt von outside. Von Gehry. Von Bilbao. Ich will es klar sagen: Dreimal in meinem Leben habe ich gewusst oder gefühlt, dass wir in diesem Universum nicht allein sind. Einmal beim kleinen Tempel in Segesta auf Sizilien, wo Goethe auch gewesen ist und gesagt hat: "Jetzt weiß ich, dass die Götter uns besucht haben". Das zweite Mal bei der Kathedrale von Chartres, auch dort kann man sagen, man weiß, Gott hat uns besucht. Das Guggenheim-Museum in Bilbao, der Bau von Frank Gehry, war das dritte Mal. Dort wurde mit Licht gebaut. Ich kann's nicht anders ausdrücken. Diese Lichträume! Wie eine Pflanze, die sich öffnet, die sich mit jedem Lichtstrahl verändert. So gibt es ein Museum des Morgens, des Mittags, des Nachmittags, des Abends. Man baut mit den Tagesstunden und kann genau voraussehen, wie sich das Licht über das Erz, das Holz, die Bronze verteilt. Wenn man sich die Titaniummauern der neuen Architekten ansieht, so glaube ich, die alten Griechen hätten dazu gesagt: "Wir verstehen genau, worum es geht."
Aber so sieht es nicht überall aus.
Richtig. Es gibt Teile Europas, die sich nur ganz langsam erholen. Ostdeutschland zum Beispiel. Ich war oft dort. Ich war im alten Weimar. Die Tragik dort ist eine andere. Es wird so viel zerstört durch die Modernisierung. Das Hotel "Elephant" etwa, wo Goethe gewohnt hat, wo Thomas Mann "Lotte in Weimar" schrieb, ist zu einem American Mexico Chain geworden oder etwas in der Art. Das Furchtbare ist: Es fehlt uns an Stolz. Es fehlt uns an Kraft, unsere Vergangenheit neu zu leben, neu zu bewerten. Es ist so viel leichter, einen McDonalds zu bauen. Aber das ist nicht die Schuld Amerikas. Das Beste exportiert Amerika nicht, das Schlechte exportiert man.
Es fehlt uns an Stolz, sagen Sie. Liegt das auch an dem tiefen Schuldgefühl, dass die Deutschen seit fast sechzig Jahren mit sich herumtragen?
Das kann ich als Außenstehender wirklich nicht beurteilen. Aber wenn sich zum Beispiel die deutschen Hochschulen nicht erholen, wenn man nicht die deutschen Seminare wieder ernst nehmen darf, dann haben wir alle einen großen, kritischen Verlust zu beklagen. Ich habe früher immer gesagt: Das deutsche Hochschulleben, die deutsche Forschung sind für uns im Westen, für das akademische System in Großbritannien und den USA eine Rückversicherung. Worte wie "Seminar" und "Habilitation" hatten für uns Gewicht. Das ist unmöglich, dass man hier jetzt die Juniorprofessuren einführt und das Diplom abschafft.
Ist das wirklich nur eine deutsche Krise?
Nein, nein. Von zehn Doktoranden in Cambridge gehen sechs bis sieben im Durchschnitt nach Amerika. Man zahlt ihnen dort dreimal so viel, man hilft ihnen, eine Wohnung zu finden. Hier, in Deutschland, herrschen die Bonzen! Hier praktiziert man das Abkapseln des Talents. Wie man hier auf den begabten Menschen sitzt, um sie zu erdrosseln! Furchtbar, dieses Bonzentum! Diese Abhängigkeiten! Ein feudales Mandarinat! Das erlaubt die angelsächsische Welt nicht. Und es wird allmählich auch in Frankreich besser.
Nochmal zu Weimar und der Frage der Schuld: Ich traf vor wenigen Wochen einen 84-jährigen Pfarrer und Komponisten, Martin Doernberg. Er stammt aus einer jüdischen Familie, wurde mit seinem Vater ins KZ Buchenwald deportiert. Weil er aber die Möglichkeit einer Emigration nachweisen konnte, kam er nach kurzer Zeit wieder frei. In England, in der Emigration, trat er zum Christentum über und wurde einige Jahrzehnte nach Kriegsende evangelischer Pfarrer. Er sagte mir, er habe seit seiner Rückkehr nach Deutschland immer versucht, die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten, aber den jungen Deutschen die Belastung durch ein Schuldgefühl zu nehmen. Angesichts von Buchenwald halte er es mit Wittgenstein: "Die Welt ist, was der Fall ist". Buchenwald sei der Fall, Goethe sei der Fall. Beides müsse man akzeptieren. Goethe könne Buchenwald leider nicht ungeschehen machen, aber Buchenwald könne, Gott sei dank, auch Goethe nicht ungeschehen machen. Ist das nicht ein akzeptabler Weg für die Deutschen, ihre Vergangenheit neu zu leben?
Absolut! Ich würde sogar noch weitergehen. Wir wissen jetzt, dass es kein Land gibt, wo man nicht foltert. Die Bilder von amerikanischen Gefängnissen hat jeder Mensch im Geist vor sich. Aber was hat Frankreich in Algerien gemacht? Das waren Nazi-Methoden. Man foltert, wahrscheinlich, in Nordirland. Man weiß noch sehr wenig darüber. Man folterte dort wohl zumindest vor dem Abflauen der Krise. Die Engländer sind sehr diskret in ihrer Besatzungspolitik. Das ist ihr Stolz und schlaues Genie. Es ist ganz erstaunlich, dass sich ein Holocaust nicht schon in Frankreich nach der Dreyfus-Affäre ereignet hat. Man vergisst das leicht: Das erste Programm für die Verschiffung aller Juden nach Tanganjika oder Madagaskar kam aus Frankreich. Man hat es, gottlob, nicht verwirklicht. Aber die Idee war damals, um 1900, sehr populär. Das Hitler-Phänomen war tief österreichisch. Vergessen wir doch bitte nicht, dass das Wort "judenrein" nicht aus Deutschland kommt, sondern aus dem Fahrrad-Club von Linz. Etwa um das Jahr 1895 herum prägte man dort den Satz: "Dieser Club ist judenrein".
Und von dem Nationalistenführer Georg von Schönerer stammt der Satz: "Hinter mir stehen Millionen", noch vor 1890, von Karl Lueger, der von 1897 bis 1910 Wiens Oberbürgermeister war, der Satz: "Wer Jude ist, bestimme ich".
Sicher! Niemand weiß jedoch, wie man sich selbst benehmen würde. Die Schwelle des Menschentums hat sich als brüchig erwiesen. Wir haben nicht mehr das Recht auf Illusionen, denn wir wissen es inzwischen zu gut: Etwas Bestialisches steckt im Menschen.
Die Musik hat es immer gewusst .
Ja, sie wusste immer, dass eine Grausamkeit, ein Terror des Irrationalen sehr tief in uns verwurzelt ist. Sigmund Freud übrigens rührte nie an die Musik. Das wagte er sich nicht. Der große Anthropologe Claude Lévi-Strauss hat einmal gesagt, die Erfindung der Melodie sei das größte Mysterium der menschlichen Wissenschaften. Das ist ein sehr großer Satz. Ich denke jetzt oft an Schillers Worte: "Wie in den Lüften der Sturmwind saust, man weiß nicht, von wannen er kommt und braust, wie der Quell aus verborgenen Tiefen". Nietzsche hat gerade deshalb so viel verstanden von der Musik, weil er sie aus seiner eigenen späten Geistesumnachtung heraus gehört hat.
Setzen Sie Hoffnung in etwas jenseits der menschlichen Vernunft?
Ich lebe in Cambridge umkreist von den hohen Prinzen der Naturwissenschaft. Das ist ein großes Glück. Ich glaube, es gibt unter ihnen einige Atheisten. Man weiß es nicht, die Diskretion ist hoch, und man darf danach nicht fragen. Der echte Atheist ist ein seltener und sehr starker Mensch. Da ziehe ich den Hut. Ebenso selten ist ein wirklich Glaubender. Auch da ziehe ich den Hut. Aber eines weiß ich: Wenn man mir sagt: "Das Gott-Problem ist Unsinn", oder wie der Philosoph Rudolf Carnap meinte, ein "grammatischer Fehlschritt", dann ist das ein Irrtum. Und wenn mir der Herr Hawking sagt: "Die Frage, was vor dem Big Bang kommt, ist eine Frage, die man nicht stellen kann oder darf", dann weiß ich, dass das arroganter Unsinn ist. Man kann diese Frage stellen. Wir stellen sie. Ich habe das Recht dazu. Warum darf ich nicht wissen, was vor dem Urknall war? Augustinus hat mir darüber immer noch mehr zu sagen als Hawking. Wenn man mir sagt, wir dürfen die Gottesfrage nicht mehr ernstnehmen, dann glaube ich, wir werden auch die großen Formen der Kunst in Europa nicht mehr haben.
Viele nehmen sie aber nicht mehr ernst.
Wenn uns ein junger Mensch sagt: "Ich habe nie von Gott gehört", dann - glaube ich - wird sich etwas ganz Neues vorbereiten. Einer, der das schon verstanden hat, war Beckett. Beckett ist unsere Brücke in eine neue, sehr problematische Zeit. Er konnte schon mit einer Welt spielen, in der niemand mehr von Gott gehört hat - was nur noch absurd ist.
. und auch eine Welt radikalen Zweifels an der Sprache.
Das gehört zusammen. Denn die Sprache ist eine theologische Schöpfung.
Sie deuten am Ende Ihres Buches "Grammatik der Schöpfung" an, dass wir möglicherweise nicht nur keine Anfänge mehr haben werden, sondern, weil der Tod trivialisiert wird, bald auch kein Ende mehr.
Er wird nicht nur trivialisiert, sondern völlig verändert. Man kann inzwischen das Gedächtnis des Menschen total ersetzen. Man kann einem Menschen eine neue Vergangenheit geben, die nicht die seine war. Es bereitet sich eine neurophysiologische Ersetzungstechnologie der menschlichen Persönlichkeit vor.
Es verändert sich damit offenbar das "Humanum" des Menschen im Wortsinn, das sich ja von "humare", dem sorgsamen Bestatten der Toten herleitet.
Ja, ja natürlich! Damit verändert sich auch die Verantwortlichkeit des Menschen. Im Wort "Verantwortlichkeit" steckt "Antwort", die Fähigkeit zu antworten. Du rufst, ich antworte. Oder man sagt: Ich höre deinen Ruf nicht. Oder: Das ist ein dämonisch-falscher Ruf. Es gab - in der Philosophie, in der Wissenschaft - immer einen Dialog, einen Dialog der Verantwortlichkeit, eine Responsio im musikalischen Sinn. Solange das noch geht, kann ich mir eine große Architektur vorstellen, Technologie, Naturwissenschaft. Die Mathematik singt weiter. Und wie sie heute singt! Leibniz hat einmal gesagt, wenn Gott zu sich selbst singt, singt er Algebra. Ganz richtig. Wenn es diesen Dialog der Verantwortlichkeit nicht mehr gibt, dann wird es mit unserer Kunst, unserer Literatur in der jetzigen Form wahrscheinlich nicht mehr weitergehen.
Aber mit den gegenwärtigen Experimenten am Menschen verwirklicht sich doch, wovon der junge Philosoph Pico della Mirandola in der Renaissance träumte: Die Würde des Menschen bestehe darin, dass er sein eigener Former und Bildner sei und selbst seine Natur bestimmen könne.
Was ich jetzt sage, ist mir sehr, sehr wichtig: Als Pico della Mirandola über menschliche "virtù", menschlichen Stolz, gesprochen hat, in der Zeit von Michelangelo und Leonardo, sagt uns Guicciardini, der große Historiker von Florenz, dass im Durchschnitt vierzig Leichen von Ermordeten pro Monat unter dem Ponte vecchio hindurchtrieben. Bitte, wir vergessen es immer wieder, wie viel Barbarei zu den Füßen jeder Hochkultur liegt. Wir träumen von Utopien, großen Humaniores, großer Kunst - aber da liegen die Leichen von politisch Ermordeten, privat Ermordeten, von Banditen Ermordeten. Die Straßen Londons gehörten zur Zeit von Shakespeare zu den gefährlichsten Europas.
Entsteht Kunst trotz dieser Barbarei oder sogar dank dieser Barbarei?
Sie entsteht sogar aus Gründen dieser Barbarei und mit dieser Barbarei. Weil die Kunst das Nein-Sagen des Menschen an die Barbarei ist, braucht sie die Barbarei als Gesprächspartner.
Obwohl Sie sagen, wir haben das Recht auf Illusionen nicht mehr, obwohl Sie Humanismus ohne Barbarei nicht denken können, scheinen Sie doch nicht ohne Zuversicht zu sein.
Wir haben jetzt über so viel Dunkles gesprochen. Aber dass wir beide hier in Berlin sitzen und miteinander plaudern, das ist - pardon! - ein Wunder Gottes. Daran wäre vor fünfzig, sechzig Jahren nicht zu denken gewesen.
Texte: Steiner | ||||